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Die Brüder, die ich vergass

Als er den blutgetränkten Pfosten erreicht hatte, wusste er… es war vorbei. Wiedereinmal war er zu spät. Wieder einmal hatte ihm die Zeit einen Strich durch die Rechnung gemacht. Die Leere verbreitete sich langsam. Es fühlte sich kühl an. Und an jeder Station seines Körpers, den es erreichte, fühlte es sich so, als zöge jemand die Stecker raus. Die elektrischen Signale die ihm zu erkennen gaben, dass er Schmerz fühlte, Verlust, Trauer sogar, erreichten nicht mehr ihre Ziele. So zuckte der gebrochene linke Arm nicht mehr, Tränen flossen nicht von den Augen noch liessen sich die Lieder schliessen. Da stand er nun und beobachtete. Kalter Regen prasselte nieder, wütend, als wollte es die Geschöpfe der Erde bestrafen. Wie Peitschenhiebe im Geleit von Getöse… Donner und Blitz, ja, so hiessen sie, das grelle Licht, dass ab und zu auflackerte und das furchteinflössende Gebrüll, gleich einem mächtigen Löwen. Aber ihn kümmerte es wenig, nun da sich die Leere seiner bemächtigt hatte. Er verspürte weder Furcht noch sah Bedarf eine sichere Unterkunft aufzusuchen. Wozu auch, dachte er. So dass er überleben mochte? Er wollte das Leben nicht mehr. Verenden wie seine Brüder, die in zahllosen Reihen das Hof des Pascha schmückten; das war zurzeit sein innigster Wunsch. Nein, nicht Rache. Der Tod, danach sehnte es ihm. Rache verdiente er nicht… nicht mehr. Fünzig Seelen hatte es das Leben gefordert… und er hätte es verhindern können. Fünzig Seelen, deren Körper nun auf drei Meter hohen Pfählen aufgespiesst das Hof füllten. Menschen konnten diese grausame Tat nicht begehen… so zumindest wollte er es wahrhaben. Denn der Glaube das Menschen hierzu fähig waren, würde ihn selbst in einen Monster verwandeln. Die Erinnerung und wofür seine Brüder standen würde er mit solch einer Darstellung der Schwäche nicht besudeln. Die Unterdrücker und Nutzniesser von edelmütigen Seelen… Seelen, die Hab und Gut für das Wohl anderer aufopferten, ohne je Etwas dafür zu verlangen… ein altbekanntes Lied für ihn. Nicht das erste Mal. Nicht das letzte Mal. So war es eben in dieser grausamen Welt. Die Guten starben, die Bösen blieben an der Macht. Er war dem Kampf müde, gut zu sein. Gut sein hiess verlieren. Die Guten verloren eben am Ende…

Der Löwe brüllte wieder. Und wieder. Das Lichtspektakel wollte nicht enden, das Getöse des Himmels die Tragödie hier weiter beklagen. Und es blitze. Und es donnerte. Blitze immer mehr und donnerte immer in kürzeren Abständen… es war eigenartig genug um seine Aufmerksamkeit auf sich zu ziehen. Gerade als er einen Gedanken dazu formen wollte, erstarrte alles. Wie ein Gemälde, als wäre die Zeit eingefroren. Er blickte um sich, suchte nach einer Erklärung. Oder war er einfach dem Tod so nahe, dass er begann zu halluzunieren?

“D A S  B Ö S E  S I E G T, S O L A N G E  D I E  G U T E N  T A T E N L O S  
Z U S C H A U E N” 

Ein engelgleiches Chor, in klagender und zorniger Stimme zugleich, erklang aus den tiefen des Himmels. Drei Mal wiederholte es sich. Und jedes Mal zitterte jede Zelle in seinem Körper und es war, als ob das Sein ihn durchschütteln versuchte. Doch anstatt in Ehrfurcht der Lehre Gehör zu schenken, sprach die Leere in ihm die Worte, die er selbst in einem derartigen Umstand nie über die Lippen zu bringen gewagt hätte.

“Die Guten schauen nicht tatenlos zu. Sie sind einfach in der Unterzahl. Das Böse ist den Menschen lieber, denn dafür brauchen sie nicht zu arbeiten. Und der Mensch liebt, was ihm einfach ist!” schrie er dem Chor entgegen. Den Tränen nahe, fuhr er fort: “Wagt ihr über uns zu urteilen, so wird der Mensch Wahres sprechen! All uns in unserer Macht stehende haben wir getan, und seht-” sagte er und zeigte auf die leblosen Körper seiner Brüder “-das Werk des Bösen! Es hat gesiegt und siegen wird es wieder und wieder!”

Mit wütenden Augen blickte er tief ins dunkle Wolkenmeer und forderte Antwort. Antworten waren sie ihm schuldig, wer auch immer sie waren. Doch eine Antwort wollte nicht kommen.

“Und da schweigt das Chor, weil es nichts mehr zu sagen hat!”

Er war wütend. Er war verzweifelt. Er wollte sterben. Er hatte keine Kraft mehr, der Wille zu leben hatte ihn endgültig verlassen. So liess er sich auf die Knie fallen und betrachtete die nasse Erde vor seinen Füssen.

“Steh auf, Kind und schenke Gehör”

Eine tiefe, männliche Stimme sprach zu ihm aus seiner Nähe. Nicht aus den tiefen des Himmels fielen diese Worte, sondern einige Meter von ihm. Er blickte auf und sah eine bläuliche Lichtkugel vor ihm schweben. So tat er, wie von ihm verlangt und stand auf.

“Was wollt ihr von mir… lasst mich sein, lasst mich einfach sterben…” sprach er, doch es klang mehr nach einem Flüstern.

Die bläuliche leuchtende Kugel kam näher und eine unerklärliche Wärme umschlang ihn. Hoffnung breitete sich aus und verdrängte die Leere aus seinen Gliedern.

“Deine Brüder hielten der Prüfung stand und traten über mit reinen Seelen. Du, der du ihre Brüder zu sein verkündest, hast dich dem Abgrund genähert. Und der Abgrund hat dich erblickt. Die Leere, die sich deiner bemächtigt, ist sein Zeichen. Die Zahl der guten Seelen spielt nie eine Rolle; anhand ihrer Bemühungen ist es, das Herzen bewegt werden. Ob in Unterzahl oder Überzahl, den Sieg tragen nie ihre Taten noch sind gute Taten für solch irdische Belänge verpfändbar. Verzweifle nicht, denn keine menschliche Tat wird je vergessen. Kämpfe, kämpfe bis zum Ende und schreite auf diesem Pfad der Guten, auch wenn du der letzte sein solltest. Das Menschenleben ist so kurz, erlaube dem Bösem keine Zeit darin. Deine menschlichen Brüder sind fort, doch wir sind stets hier und wachen über euch. Das Gute siegt immer am Ende. Diese Welt ist nur der Anfang.”

Und mit diesen Worten erhob es sich in die Höhen und verschwand mit einem Lichtblitz. Und mit ihr, begannen sich die Räder der Zeit wieder zu drehen. Der Regen fiel auf sein Gesicht, nicht mehr peitschend, sondern weich und sanftmütig. Er blickte noch einmal gen Himmel und wieder auf den Boden.

“So sei es denn. Bis zum Ende. Meine Brüder soll ich nicht enttäuschen.”

Er griff nach einer Schaufel in der Nähe und machte sich daran, fünfzig Gräber zu öffnen. Der linke Arm war nicht mehr gebrochen, die Tränen flossen wieder und die Lieder folgten seinen Befehlen. 

Und der Zyklus fing von Vorne an.

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